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Das zweite Leben der Waffen aus dem Kalten Krieg

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Für den Krieg in der Ukraine werden Waffen aus dem Kalten Krieg reaktiviert. Beide Seiten setzen neben hochmodernen Panzern auch sowjetische Modelle im Kampf ein, wie den T-72 und den noch älteren T-55-Panzer. Auch die Tschechische Republik und Polen haben ihre Bestände dieser Panzerfahrzeuge wiederbelebt und Hunderte von ihnen als Unterstützung an die ukrainischen Streitkräfte geliefert. Diese Waffen haben das politische Bündnis, aus dem sie hervorgingen, – den Warschauer Pakt – überdauert und noch immer sind Generationen osteuropäischer Soldaten im Umgang mit ihnen geschult. Selbst Jahrzehnte nach dem Zerfall der von Moskau dominierten Allianz besitzen die ehemaligen Mitgliedsländer noch die gleichen Waffen.

Die Organisation Conflict Armament Research (CAR) hat den Einsatz tschechoslowakischer Vz.58-Sturmgewehre auch außerhalb Osteuropas nachgewiesen: in den jüngsten Konflikten im Irak, in Niger und im Südsudan. Viele der Gewehre sind über 50 Jahre alt, mehrere waren beschädigt oder unvollständig. Diese kaum funktionstüchtigen Waffen wiegen in ungeladenem Zustand rund 3 Kilo und wurden noch immer als wertvoll genug erachtet, um sie von einem Konfliktort zum anderen zu transportieren. 

Während des Kalten Krieges warf man dem Ostblock aufgrund seiner intensiven Waffenproduktion  mangelnde historische Voraussicht vor. Dieser Text hingegen wird zeigen, dass die an der Herstellung und am Handel beteiligten Parteien in der Tschechoslowakei sehr wohl über Fragen der Haltbarkeit und des Verfalls der Waffen nachdachten. Doch die genannten Fälle zeigen, dass das tatsächliche „Lebensende“ einer Waffe selten so eintritt wie vorgesehen. Warum sollte militärische Ausrüstung dann überhaupt noch ein Ablaufdatum bekommen?

Der Skandal des Obsoleten

In den 1970er Jahren verkaufte die Tschechoslowakei eine Charge des Sprengstoffs Semtex an Libyen. Nach einem Jahrzehnt tauchte es in Bomben in Nordirland und auf dem britischen Festland auf. Am schockierendsten für die kommunistischen Minister in Prag war, dass Semtex 1988 offenbar für den Absturz eines Transatlantikflugzeugs über der schottischen Stadt Lockerbie verantwortlich war, bei dem die 259 Passagiere und 11 Einwohner ums Leben kamen.

Eine der letzten Entscheidungen der tschechoslowakischen Regierung war das Unterzeichnen eines Vertrages, der die Kennzeichnung und Nachweisbarkeit von Plastiksprengstoffen vorschrieb. Nach der Samtenen Revolution 1989 erklärte die Firma Explosia, die Semtex herstellte, dass die Haltbarkeit des Sprengstoffes nicht zehn sondern nur fünf Jahre betrüge. Er sei nicht so langlebig, dass er für andere als die anvisierten Zwecke und Konflikte eingesetzt werden könne.

Tschechoslowakische Militärparade in Prag am 9. Mai 1985. Quelle: Wikimedia Commons.

Die Motivation, die Lebensdauer von Semtex zu verkürzen, mag zunächst als unvermeidliche Nebenwirkung der ab 1989 stattfindenden „Transformation“ der sozialistischen Republik hin zu einer Marktwirtschaft erscheinen. Geplante Obsoleszenz (die Produktion absichtlich kurzlebiger Waren) wurde oft als kapitalistischer Trick verstanden, um die Verbraucher zum Kauf immer neuer Modelle desselben Produktes zu bewegen. Gegner dieser Geschäftspraxis bemängeln an ihr die Ressourcenverschwendung und das Schüren eines unersättlichen Konsumverhaltens.  

Mit der Annahme, dass das Lebensende eines Produktes sozusagen vorprogrammiert werden kann, spiegelt der Begriff der geplanten Obsoleszenz eine gewisse Hybris wider – zumindest seitens des Designers Brooks Stevens, der ihn geprägt hat: „Der Skandal des Obsoleten ist nämlich gerade, dass es nicht verschwindet.“

Die Diskrepanz zwischen der sicheren Haltbarkeit einer Waffe und ihrer tatsächlichen Einsatzfähigkeit war den tschechoslowakischen Waffenhändlern durchaus bewusst. Ein ehemaliger Mitarbeiter des früheren staatlichen Waffenexportmonopols Omnipol erklärte, dass die Garantien zur Zeit des Sozialismus und bis heute „für zwei Jahre, für fünf Jahre oder bei bautechnischen Dingen für maximal zehn Jahre gegeben wurden.“ Er war jedoch stolz darauf, dass die von ihm verkauften Geräte in einigen Fällen „50 Jahre lang funktioniert haben und noch heute funktionieren.“ Wofür sie eingesetzt wurden, sagte er nicht.

Obsoleszenz, so der Omnipol-Mitarbeiter, sei ein Begriff aus der Geschäftswelt der Verträge, Verkäufe und Garantien, der „prinzipiell wirtschaftliches Denken auf die [materielle] Umwelt“ anwende. Sicherlich nutzten diejenigen, die im Namen der Tschechoslowakei Verträge unterzeichneten, solche Begriffe. Der Sozialismus war schließlich nicht wirtschaftsfeindlich, und Obsoleszenz sollte nicht als nur im Kapitalismus existierendes Konzept verstanden werden. Der Verkäufer erwähnte aber, dass auch die Lebensspannen gleicher Produkte variieren können.

Eine solche chronozentrische Denkweise war damals nicht bei allen tschechoslowakischen Waffenproduzenten vertreten. Zweihundert Kilometer weiter südöstlich dachten die Konstrukteure des inzwischen stillgelegten Werks Zbrojovka in Brünn nicht daran, dass die von ihnen entwickelten Waffen nach einer bestimmten Zeit unbrauchbar würden. Sie erinnerten sich daran, dass durch die Erprobung der Waffen eine bestimmte Anzahl von Verwendungen einkalkuliert werden konnte. Zum Beispiel feuerten die Konstrukteure ein Gewehr in wenigen Tagen 10.000 Mal ab, um seine Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Was mit der Waffe nach der vorgesehenen Anzahl von Einsätzen geschehen würde, konnte hingegen weder geplant noch garantiert werden. 

Die Diskrepanz zwischen den Nutzungs- und Zeitgarantien verdeutlicht die unterschiedlichen Ansätze, die selbst in der planwirtschaftlichen Waffenindustrie bestanden. Die Tschechoslowakei war in den 1970er und 1980er Jahren einer der zehn größten Waffenexporteure der Welt und damit gut in den globalen Waffenhandel integriert. Analysten aus der USA stellten fest, dass der Markt sich damals verlagerte, von „fast geschenkter, veralterter und technologisch minderwertiger Ausrüstung hin zum Verkauf von oft hochtechnologischen, erstklassigen Waffen“. Auf diesem Markt, der zumindest teilweise Aktualisierung und Innovation erfuhr, dauerten die Waffentests verständlicherweise keine zwei oder fünf Jahre, wie von der Produktgarantie abgedeckt. 

Neue Märkte für alte Waffen

Waffen aus dem Kalten Krieg wurden noch viel länger in Konflikten eingesetzt, als ihre Konstrukteure sie für sicher erklärt hatten. Einige wurden zur Zeit des Kalten Krieges im Rahmen zwischenstaatlicher Abkommen oder durch Vermittlung von Omnipol oder Dritten nach Übersee verkauft. Andere kamen ab den 1990er Jahren durch unternehmungslustige Neueinsteiger auf den globalen Waffenmarkt, als Hersteller wie Explosia ihre Produktionsweisen überdachten.

Der Großteil der tschechoslowakischen Waffen, die CAR im Irak, im Niger und im Südsudan fand, war erst nach dem Kalten Krieg nach Übersee gelangt. Die Analystin Yudit Kiss verweist auf den Auswirkungen der mittel- und osteuropäischen Revolutionen für den weltweiten Waffenhandel, da „plötzlich eine große Menge an Ausrüstung aus zweiter Hand auf die Exportmärkte kam, mit der die neue Produktion konkurrieren musste.“ Denn nach der Auflösung der sozialistischen Waffenhandelsmonopole durch die neu gewählten Regierungen wurden die lange Zeit in den Armeelagern eingemotteten Waffen zu idealen Verkaufsobjekten.

Die Haltbarkeit einer Waffe ist nicht nur eine Frage der verarbeiteten Materialien. Auch die Wartung  ist von entscheidender Bedeutung, wenn man sich auf ältere Waffen (oder Militärfahrzeuge) verlassen will, wie Kommentatoren – mit nicht wenig Schadenfreude – in Bezug auf die russische Invasion in der Ukraine festgestellt haben.

Zudem beeinflusst die Lagerung der Waffen ihre Langlebigkeit. Dies räumten die kommunistischen Prager Minister ein, als darüber debattiert wurde, ob Ägypten eine Rückerstattung erhalten oder aufgrund falscher Lagerung für die Fehlfunktionen verantwortlich gemacht werden sollte, die einige Waffen aus dem historischen Deal der beiden Staaten im Jahr 1955 aufwiesen.  

Dass sich die Lagerbedingungen auf die Haltbarkeit von Sprengstoffen auswirken – und damit auch auf die Menschen, die in ihrer Nähe leben – wurde 2020 in Beirut auf dramatische Weise deutlich, als ein mit Ammoniumnitrat gefülltes Lagerhaus in Flammen aufging. Mehr als 200 Menschen kamen dabei ums Leben und Hunderttausende wurden obdachlos. 

Wozu den Gegenständen eine Lebensdauer zuschreiben?

Der derzeitige Sprecher von Explosia, Martin Vencl, beantwortet lieber Fragen zu den Bedingungen, unter denen Semtex heute im tschechischen Pardubice hergestellt und gelagert wird, als zu dem damaligen Einsatz des Sprengstoffes bei Anschlägen im Vereinigten Königreich und anderswo. Er relativiert die frühere Behauptung seines Unternehmens, dass die Lebensdauer dieses Vorzeigeprodukts kürzer sei und erklärt, dass „das aktuelle Semtex sich auch mehrere Jahrzehnte halten kann, wir dies nur nicht mehr so lange garantieren wollen.“

Er lehnte Fragen über eine eventuelle geplante Obsoleszenz von Semtex ab, da dies „interne Angelegenheiten“ seien. Vencls Zurückhaltung in diesem Punkt macht die damaligen Äußerungen des Unternehmens in den 1990er Jahren umso bemerkenswerter. 

Für Vencl sei der frühere schlechte Ruf von Semtex auf die angebliche Unordnung im Kommunismus zurückzuführen. Doch trotz seiner Behauptung, die Garantien seien heute „geregelter“, deuten Interviews mit Semtex-Verkäufern von damals eher auf eine Kontinuität in der Geschäftspraxis hin: Damals wie heute sind Garantien abhängig von der Lebensdauer der Materialien. 

Die Bekanntgabe der verkürzten Lebensdauer von Semtex scheint also von Menschen ausgegangen zu sein, die nicht direkt in Vermarktung und Verkauf des Produktes involviert waren. Vielmehr resultierte die neue Kurzlebigkeit aus einer breiteren Einstellung der Hersteller, Politiker und der Öffentlichkeit. Denn die langfristige Zukunft erschien angesichts der aktuellen Veränderungen in der tschechoslowakischen Gesellschaft plötzlich weniger vorhersehbar.

Der Fall Semtex zeigt, dass einige Waffenproduzenten und -händler nach 1989 wahrscheinlich erst einmal den Konflikt und die Zeit selbst neu bewerteten. Beteiligte formulierten ein moralisches Plädoyer für die Erforschung der geplanten Obsoleszenz, einem in der (anti-)kapitalistischen Kritik bisher weitgehend unbeachtet gebliebenen Aspekt. Diese Forderungen wurden wohl leiser, da die postrevolutionäre Zeit nun zunehmend von diesen obsolet geglaubten Waffen geprägt ist.

Gegenständen ein Verfallsdatum zuzuschreiben, sorgt für den Aufbau von Allianzen zwischen verschiedenen Menschen, die in diese Dinge investieren. Oft sind die Absichten der Hersteller und das gegenseitige Vertrauen zwischen Käufer und Verkäufer in zeitliche Garantien eingebunden, die sich tendenziell durch die Erfahrung der Waffennutzer entfremden.

Das Verfallsdatum kann zudem die Waffenhersteller und -händler von der Verantwortung befreien. Der Verfall selbst ist jedoch reversibel, wie die tschechoslowakischen Politiker zu ihrem Leidwesen mit jeder neuen Bombe, die aus „nicht-funktionellem“ Semtex hergestellt wurde, feststellen mussten. Heute nutzen Prager Politiker diese Ambiguität, um mit jeder Lieferung von ehemals unbrauchbaren Panzern an die Front in der Ukraine ihre Agenda voranzutreiben.

Dieser Artikel wurde im Rahmen des Jugendprojektes „Vom Wissen der Jungen. Wissenschaftskommunikation mit jungen Erwachsenen in Kriegszeiten“, gefördert von der Kulturabteilung der Stadt Wien.

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