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Die Europäische Union ist das Ergebnis von Kriegen: Von zwei Weltkriegen, die dem Europa, wie wir es kennen, beinahe ein Ende bereitet hätten. Eines kalten Krieges, der scheinbar für immer einen eisernen Vorhang durch Europa gezogen hatte. Der Nahtoderfahrung von Europa als Idee.
Denn Europa ist vor allem eine Idee: die Idee, dass die vielen Völker, Sprachen und Kulturen, die auf einer zerklüfteten Halbinsel am westlichen Rand der asiatischen Landmasse zusammengedrängt sind, eine gemeinsame Heimat und ein gemeinsames Schicksal teilen. Die Ballung zahlreicher Kulturen ist kein neues Merkmal Europas, sondern sein geopolitisches Dilemma und seine Herausforderung.
Viele Völker haben sich in Europa niedergelassen, manchmal auf den Ruinen anderer, aber Europa selbst hat es nicht geschafft, für irgendjemanden zur Heimat zu werden. Die Europäische Union ist ein Projekt geblieben, bei dem nur die konstituierenden Nationalstaaten in der Lage sind, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Loyalität zu vermitteln, wie es mit dem Begriff der Heimat verbunden ist. Das hat sich gezeigt, als das Vereinigte Königreich seinen Austritt aus der Union vollzog und die Tür zuschlug. Die Entscheidung Großbritanniens führte zu Rufen nach weiteren EU-Austritten – Swexit, Italexit, Öxit, usw. Oder wie es der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer kürzlich formulierte: „Europa befindet sich in einer zunehmend gefährlichen Region und bleibt doch ein Zusammenschluss souveräner Nationalstaaten, die nie den Willen zu einer echten Integration aufgebracht haben – selbst nach zwei Weltkriegen und dem jahrzehntelangen Kalten Krieg. In einer Welt, die von großen Staaten mit wachsenden Militärbudgets beherrscht wird, ist Europa noch immer keine echte Macht.“
Vielleicht war es also an der Zeit, dass die vielen Nationen Europas wieder einmal an die geopolitischen Bedingungen für ihre Unabhängigkeit und Sicherheit erinnert werden. Das geschah am Morgen des 24. Februar 2022, als Vladimir Putins Russland seinen unprovozierten Angriffskrieg nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die Sicherheitsordnung begann, die die europäischen Nationen, Nato-Mitglieder und Nichtmitglieder gleichermaßen, als selbstverständlich erachtet hatten.
Verzweifelte Nationalstaaten
Seitdem ist nichts mehr selbstverständlich. Wir erleben eine Zeitenwende, wie es der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz drei Tage nach dem massiven Angriff auf Kyiv formulierte. Wieder einmal wurden die europäischen Nationen brutal daran erinnert, dass sie vielleicht bald nichts mehr gemeinsam haben, wenn sie nicht in der Lage sind, das Gemeinsame zu bewahren – und wenn nötig zu verteidigen. Und wieder einmal könnte Europa zu einer Ansammlung ungleicher Nationalstaaten werden, von denen jeder einzelne zu klein und zu schwach ist, um sich in einer Welt zu behaupten, in der das Recht des Stärkeren gilt – einer Welt, zu der ein Sieg Putins die Tür öffnen würde.
Natürlich hat die Europäische Union ihre Schwächen und Mängel und leidet unter einem Demokratiedefizit. Aber sie ist bei weitem der demokratischste Versuch der vielen Nationen auf der europäischen Halbinsel, ein politisches Gemeinwesen für ihre gemeinsamen Probleme und Herausforderungen zu schaffen. Ohne ein übergreifendes europäisches politisches Gemeinwesen, so argumentierten seine ursprünglichen Architekten, würde sich erneut der alte, ausgetretene europäische Pfad zu Konflikt, Krieg und Selbstzerstörung auftun. Ihre Strategie bestand darin, eine gemeinsame Wirtschaftsunion zu schaffen, die den Boden bereiten sollte. Oder, wie es in der Präambel des Vertrags zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 heißt, „die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“.
Diese Strategie war anfangs so erfolgreich, und so viele Nationen wollten in der Folge Teil der europäischen Gemeinschaft werden, dass man leicht vergaß, wie empfindlich und anfällig sie war. Anfällig für nationalistische Unzufriedenheit von innen. Anfällig für spaltenden Druck von außen. Verwundbar auch durch ihre sicherheitspolitische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, die erneut einen Präsidenten wählen könnten, der bereit wäre, das transatlantische Bündnis aufzulösen und die Europäer sich selbst zu überlassen.
In dieser Hinsicht war die sofortige und intuitive Reaktion Europas auf den russischen Angriff vielversprechend. Das Engagement für die Sache der Ukraine war echt, ebenso wie die Bereitschaft, die potenziell schwerwiegenden Folgen einer schnellen Beendigung der Abhängigkeit von russischem Öl und Gas zu ertragen. Die über Nacht getroffene Entscheidung von Schweden und Finnland, die Nato-Mitgliedschaft zu beantragen, war eine dramatische Umkehrung lange vertretener Positionen.
Habermas und Derrida und die inhärente Schwäche Europas
Es stimmt, dass Putins Krieg nicht sofort zu einer neuen Debatte über die Stärkung der Europäischen Union geführt hat. Aber offen EU-feindliche Parteien und Bewegungen (z. B. in Schweden und Italien) begannen, ihre Positionen zu korrigieren, da die Wahrnehmung einer gemeinsamen Bedrohung und eines gemeinsamen Feindes ein breiteres Gefühl für eine gemeinsame europäische Sache zu wecken schien.
Als Jürgen Habermas und Jacques Derrida nach der US-Invasion im Irak 2003 das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik beklagten, waren sie sich der Schwächen der Europäischen Union durchaus bewusst. Ein europäisches politisches Gemeinwesen, das durch einen zwischenstaatlichen Konsens regiert wird und in dem jeder Mitgliedsstaat ein Vetorecht hat, würde zwangsläufig dazu führen, dass die Tragweite seiner Entscheidungen und Maßnahmen von seinen widerspenstigsten Mitgliedern bestimmt wird. „Wenn Europa nicht auseinanderfallen soll“, schrieben Habermas und Derrida, müssen die Mitgliedstaaten, die zu einer gemeinsamen Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik bereit sind, selbst die ersten Schritte unternehmen und eine Dynamik erzeugen, der sich die anderen Mitgliedstaaten „nicht auf Dauer werden entziehen können“.
Habermas und Derrida konnten sich damals natürlich noch keinen umfassenden russischen Militärschlag gegen eine unabhängige europäische Nation vorstellen. Aber nachdem sie erlebt hatten, wie die amerikanische Supermacht im Irak einen Alleingang unternahm und ihre europäischen Verbündeten mit einer „Koalition der Willigen“ überrollte, die Europäer gegen Europäer ausspielte, schien es den beiden Philosophen dringlich, eine Lösung für die inhärenten politischen Schwächen Europas zu finden.
In ihrem Streben nach einem stärkeren Europa waren sie nicht die ersten. Der Versuch, die politischen Bindungen zwischen den Nationen Europas zu erweitern und zu vertiefen und das Demokratiedefizit abzubauen, war ein wiederkehrender Begleiter der ständigen Erweiterung und Vertiefung der wirtschaftlichen und rechtlichen Bindungen. Wie so viele vorher, setzten auch Habermas und Derrida ihre Hoffnungen auf die Förderung einer gemeinsamen europäischen Identität. „Grundsätzlich müssen die Bürger einer Nation die Bürgerin einer anderen Nation als ‚eine von uns‘ betrachten“, schrieben sie.
Das Gespenst eines europäischen Superstaates
Doch inzwischen hatte sich gezeigt, dass dies leichter gesagt als getan war. Die Hoffnung, dass der gemeinsame europäische Markt und die gemeinsame europäische Währung eine gemeinsame europäische Staatsbürgerschaft auf der Grundlage einer entstehenden europäischen Identität fördern würden, hatte sich als unrealistisch erwiesen. Immer wieder stießen die Befürworter eines stärkeren Zusammenhalts der Europäischen Union und eines stärkeren europäischen Gemeinwesens auf die Schwierigkeit, demokratische Legitimität, Vertrauen und formale Macht von nationalen auf transnationale Institutionen zu übertragen.
Das Gespenst eines europäischen Superstaates, der die nationale Selbstbestimmung mit Füßen tritt und die demokratische Kontrolle schwächt, ist in den Debatten über die konstitutionelle Zukunft Europas ein bis heute wirksames Schreckgespenst. Infolgedessen haben diese Debatten allesamt nicht den politischen Willen zur Schaffung einer Föderation europäischer Nationalstaaten hervorgebracht, die durch eine Einrichtung repräsentiert würde, die demokratisch, legitim und mächtig genug wäre, um mit dem gemeinsamen Schicksal ihrer Mitglieder betraut zu werden, in einer Welt, in der dieses Schicksal wiederum von anderen bestimmt werden kann – oder wieder dem notorischen Hang der Nationalstaaten zu innerer Zerrissenheit und Selbstzerstörung zum Opfer fällt.
Habermas und Derrida waren sich beide der „Tücken einer europäischen Identität“ bewusst, womit sie die inhärente nationale und kulturelle Vielfalt („die wilde Kakophonie einer vielstimmigen Öffentlichkeit“) meinten, aus der jeder Sinn für eine gemeinsame europäische Identität und ein gemeinsames Schicksal entstehen muss. Ihnen war auch klar, dass dies bisher nicht geschehen war.
Zwanzig Jahre später, nachdem viel historischer Schwung verloren gegangen ist und viel politische Energie darauf verwendet wurde, die Grundpfeiler der Europäischen Union anzugreifen und zu schwächen, hat das Plädoyer für ein stärkeres Europa mit einer wirklich gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dank des Angriffs Russland auf die Ukraine sein bisher überzeugendstes Argument erhalten. Oder wie Radek Sikorski, ehemaliger polnischer Verteidigungs- und Außenminister, es formulierte: „Um in einer Welt der kämpfenden Giganten zu überleben und zu gedeihen, muss sich Europa von einer militärisch schwachen Konföderation in eine echte Supermacht verwandeln.“
Ein Plädoyer für das F-Wort
Wir müssen uns daher fragen, ob das dramatisch erwachte Gefühl der gemeinsamen Bedrohung und des gemeinsamen Ziels in einen erneuten Impuls für den europäischen (Wieder-)Aufbau münden kann.
Wenn dem so ist, sollten wir uns meiner Meinung nach die Frage stellen, welche konstitutionelle Ordnung die Europa innewohnende Pluralität von Nationen, Sprachen, Kulturen und Interessen dazu bringen kann, sich in einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik wiederzufinden.
Ich kenne nur eine Verfassungsordnung, die geeignet wäre, die vielen Gemeinschaften Europas im Rahmen einer gemeinsamen und einigermaßen legitimen Gesellschaftsordnung zusammenzuführen, nämlich eine Föderation.
Leider ist „Föderation“ – das F-Wort – ein viel geschmähter Begriff; er beschwört die Gefahr eines allmächtigen europäischen Superstaates herauf, der den Nationalstaat ablöst und ersetzt. Dies ist ein klares, oft absichtliches Missverständnis dessen, was eine Föderation ist – und sein kann. In seiner ursprünglichen römischen Bedeutung bedeutet der Begriff Föderation einfach einen Zusammenschluss oder einen Vertrag mit Nationen, denen man vertraut (foedus, von fido, vertrauen), und ist die bevorzugte Regierungsform in einer Reihe von westlichen Demokratien, insbesondere in Deutschland und den Vereinigten Staaten. E pluribus unum, aus vielen eines, ein Motto der entstehenden amerikanischen Föderation, ist für die europäischen Verhältnisse sogar noch relevanter, denn die historische Vielfalt ist dort größer, die Bilanz der Uneinigkeit und Zwietracht katastrophaler und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Ordnung daher zwingender.
Europa, ein Experiment
Es stimmt, dass die Föderation eine ausgeklügelte und anspruchsvolle Form eines politischen Gemeinwesens ist, da sie auf der Annahme von Vielfalt und nicht von Homogenität beruht. Die amerikanische Konföderation wurde ausdrücklich konstruiert, um den inhärenten Konflikten in der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Sie schuf daher eine weitreichende Gewaltenteilung – indem sie „Ehrgeiz gegen Ehrgeiz“ setzte, wie James Madison in den Federalist Papers schrieb.
Die Gründerväter Amerikas sahen ihr Land als Laboratorium für die Schaffung einer Gesellschaft, in der freie Menschen sich selbst regieren können, ohne Könige und Fürsten, in einer Gesellschaft, die auf Vielfalt und Meinungsverschiedenheit beruht. Ich glaube, dass Europa ein ähnliches Laboratorium ist, das ein in vielerlei Hinsicht fortgeschritteneres Experiment durchführt, weil es ein größeres Maß an Vielfalt und mehr widersprüchliche und traumatische Erinnerungen und Erfahrungen aufweist.
Eine föderale Verfassung für Europa würde somit versuchen, das zu erreichen, was die Gründerväter des laufenden europäischen Projekts aufgrund von anhaltenden Ressentiments nicht vermochten: eine wirklich transnationale Ebene für Deliberation und Entscheidungsfindung in Fragen von klar wahrgenommenen gemeinsamen Interessen zu schaffen.
Der Krieg in der Ukraine erinnert uns täglich daran, was diese Interessen sind. Jetzt könnte unsere letzte Chance sein, der europäischen Idee Stärke zu verleihen.
This translation is contributed by Voxeurop.
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